Zur Entstehung des Projektes
Manche Projekte müssen langsam reifen, bis sie ihr endgültiges Format gefunden haben – wie das Klári-Projekt. In einem Interview schildert Sarah van der Kemp, wie der Lockdown dabei half, ihr neues Musikformat zu entwickeln.
Frau van der Kemp, wie kommen Sie zu dem Klári-Projekt?
Es kamen zwei Dinge zusammen. Zum einen fing der erste Pandemie-Lockdown gerade an, und die Konzerte fielen alle weg. Ich war auf der Suche nach einem anderen Aufführungsformat, um trotzdem weiter auftreten zu können. Und zum anderen wollte ich Bartóks Liederzyklus op. 15 – die Klári-Lieder – aufführen. Ich habe die Lieder vor einigen Jahren das erste Mal gehört und sie ließen mich seither nicht mehr los. Ich war begeistert von der Musik und habe mich gewundert, warum sie so selten aufgeführt werden. Ich vermute, es lag an den Texten, die die Kritiker für „schlecht“ hielten. Ich finde das allerdings gar nicht und wollte mit einer neuen Interpretation einen anderen Akzent setzen. Daraus entstand dann die Idee, Bartóks Lieder in den Mittelpunkt eines Konzertprogramms zu stellen und sie buchstäblich in ein anderes Licht zu rücken. Und weil wir ja noch in der Pandemie waren, entschied ich mich darüber hinaus für ein Videoformat.
Wie haben Sie Ihren Kollegen Robert Pflanz gefunden?
Ich kannte Robert aus einer Opernproduktion in Schwerin. Er hat dort das Bühnenbild gemacht, und ich habe gesungen. Ich war begeistert von seinen Bühnengestaltung und seinen Videoinstallationen. Das war so sensibel und geschmackvoll eingesetzt, dass ich dachte: entweder ich mache das mit Robert, oder gar nicht. Das habe ich ihm am Anfang natürlich nicht gesagt!
Wofür steht der Name – „Klári-Projekt“?
Der Name steht für das Konzertformat, also: die Kammermusik mit Videokunst, ebenso wie für das Ensemble. Er erinnert an den Ursprung der Projektidee und an das erste Programm, die Klári-Suite. Die Namensgeberin ist Klára Gombossy, die blutjunge Dichterin der Bartók Lieder, mit denen alles begann. Die beiden begegneten sich auf einer Studienreise Bartóks, wo die erst 14-jährige Försterstochter Klára für ihn slowakische Volkslieder übersetzte. Bartók sammelte und archivierte diese Lieder. Später zeigte sie ihm auch ihre eigenen Texte. Bartók erkannte Kláras Talent und förderte ihre Ausbildung. Wir wissen, dass Béla Bartók sich in Klára Gombossy verliebte, sie seine Gefühle aber nicht erwiderte. Sie schien ihn aber nach langer Schaffenskrise nach dem ersten Weltkrieg wieder zum Komponieren bewegt zu haben. Was uns bleibt sind die vier Vertonungen ihrer Gedichte in seinem Zyklus op. 15.
Warum hat Sie gerade dieser wenig bekannte Lieder Zyklus so interessiert – und berührt?
Diese Lieder haben für mich eine ganz eigene und auch ungewöhnliche Qualität. Bartók ist bekannt dafür, dass er Volkslieder unterschiedlichster Ethnien sammelte und aufschrieb. Volkslieder haben in jeder Strophe die gleiche Melodie und Begleitstimme. In Bartóks Oeuvre gibt es nur 10 sogenannte Kunstlieder, die in op. 15 und 16. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie durchkomponiert sind, also: jede Strophe hat eine andere Melodie und darüber hinaus eine andere Begleitung im Klavier. Die Musik entwickelt sich im Laufe des Liedes entlang des Textes. Dieses Prinzip hat Bartók zwar nicht erfunden, aber in seinem eigenen Oeuvre ist es eine Ausnahme. Im Gegensatz zu den von ihm gesammelten Volksliedern erinnern sie musikalisch und thematisch stark an seine Oper „Herzog Blaubarts Burg“ – sie wirken wie eine konzertante Version im Kleinformat!
Was mich besonders an den Klári-Liedern berührt, ist Bartóks Umgang mit den Texten. Diese spiegeln die ganze Bandbreite von Sehnsüchten einer jungen Frau – von erotischen Phantasien bis hin zu ersehnten Geistesverbundenheit zweier Seelen, deren Formulierung in jener Zeit sicherlich nicht gängig war. Bartók gibt diesen leidenschaftlichen Gefühlen Raum, lässt sie explodieren, und gleichzeitig zügelt er sie durch seine musikalische Form und Klangwelt. Ich denke, er hat diese unreflektierten freien Gefühlsausbrüche als Qualität eines besonders starken, leidenschaftlichen Ausdrucks erkannt, und hat die teils etwas unbeholfene Dichtung großzügig übergangen. Dieses Wort-Ton-Verhältnis ist sehr reizvoll in der interpretatorischen Arbeit!
Muss man von diesem Hintergrund wissen, um die Lieder und Ihre Umsetzung richtig zu verstehen?
Nein. Die Lieder stehen für sich. In diesem Fall ist das Hintergrundwissen beim Hören vielleicht eher hinderlich, weil sie schnell zu Spekulationen über das Verhältnis zwischen Klára und Bartók führen. Der Umstand, dass sie erst 14 Jahre alt war, Bartók aber schon Ende dreißig und außerdem verheiratet, gibt anscheinend Anlass zu vielen Mutmaßungen, an denen ich mich nicht beteiligen möchte.
Bis heute werden diese Stücke ja wenig gespielt – begehen Sie also in Ihren Aufführungen einen Tabubruch?
Nein. In der Rezeptionsgeschichte werden die Texte der Lieder fast einheitlich vernichtend beurteilt. Sie werden als Pubertätserotik, peinlich, dilettantisch und naiv abgetan. Für mich verraten diese Beurteilungen mehr über das Verhältnis der Verfasser zu erotischen Themen als über die Qualität der Gedichte. Liebesehnsüchte sind doch heute kein Tabu mehr!
Frau van der Kemp – warum braucht Ihre Musik eigentlich Videokunst –als Hintergrund?
Gut, dass Sie das fragen! Es gibt nämlich bei dem Zusammenführen von Musik und Video eine Verwechselungsgefahr, die ich unbedingt vermeiden möchte. Das betrifft schließlich auch die Frage nach dem künstlerischen Mehrwert.
Videos in Verbindung mit klassischer Musik sind ja nichts Neues, und gerade dazu sehr in Mode. Mein Sängerherz sträubt sich in der Kammermusik eigentlich vollkommen dagegen. Denn im Lied und der Kammermusik geht es ja gerade darum, den Raum und die Farben klanglich darzustellen. Die Bilder sollen bei den Zuhörenden spontan entstehen – vor dem inneren Auge, ganz individuell. Das ist für mich die Kunst und ihr Zauber.
Wenn man aber die Bilder vorgibt, wie etwa im Video, kann das Video schnell zum Ersatz oder auch zur Verdopplung der interpretatorischen Aufgabe werden. Das haben wir in unseren Konzertprogrammen aber nicht vor! Das Video soll weder die Musik verdoppeln noch die Worte erklären, und schon gar keine Szene wie in der Oper darstellen.
Die Videokunst wird von uns „rein kompositorisch“ eingesetzt. Quasi als eigene musikalische Stimme, die man „hören“ kann.
Das wichtige, und vielleicht auch das einzigartige an der KLÁRI-Idee ist nicht, dass das Video als neues Instrument, also als eine neue kammermusikalische Besetzung erscheint, sondern dass ein musikästhetischer Standpunkt entsteht. Form und Inhalt sollen entsprechen. Und das dehnen wir aus auf den gesamten Konzertabend. Die Entwicklung der Video-Kunst durch den gesamten Abend hindurch spannt dabei den großen künstlerischen Bogen.
Was ist Ihr künstlerisches Ziel?
Der Prozess! Das Projekt ist ein Experiment.
Worin bestand bei diesem beispiellosen Projekt die größte Herausforderung?
Das Schwierigste war, eine Balance zwischen Bild und Musik zu finden. Bartóks Musik, seine Lieder, brauchen eigentlich keine Bilder, denn die entstehen beim Hören von selbst. Und aus der Perspektive einer Sängerin schaffe ich mir durch die Videokunst einen Mitstreiter, der immer schneller ist als ich.
Bei jedem Lied haben wir uns gefragt, in welcher Funktion das Video logischerweise erscheinen kann. Wo lässt die Musik Platz? Wo kann das Video erscheinen ohne die Musik zu überfluten? Bei jedem Werk fällt die Antwort anders aus, das ist wirklich erstaunlich.
Und wie haben Sie die Themen gesetzt?
In KLÁRI -SUITE ist das Thema Leidenschaft in unterschiedlichsten Facetten zwischen schöpferischen und zerstörerischen Kräften, die sich exponentiell „ausdehnen“. Ich habe dieses Thema gewählt, weil mich diese Bewegung stark an ein beliebtes Kompositionsprinzip von Bartók erinnert, was auch schon in den Klári-Liedern auftaucht. Er verwendete mit Vorliebe die Proportionen des Goldenen Schnitts bzw. der Fibonacci-Zahlenfolge in seinen Werken. Und so zeigt das Video dieses Wachstum als großen Bogen, über den ganzen Abend. Damit wirkt es quasi wie eine Vergrößerung seines Kompositionsprinzips. Auch die Farben spielen dabei eine wichtige Rolle: Schwarz/weiß + unscharf entwickeln sich zu schnell + bunt.

Wie reagiert das Publikum auf Ihre Arbeit? Kann das Publikum das denn nachvollziehen? Oder müssen Sie dazu eigens eine Einleitung geben?
Erstmal hat uns alle gefreut, dass wir ein ganz breites Spektrum an Interessierten begrüßen konnten! Kammermusikliebhaber, ebenso ansonsten eher theateraffine Menschen, die nicht in ein klassisches Konzert gehen, aber auch alte und junge Menschen gleichermaßen – man kann gar nicht sagen, dass es sich um eine bestimmte Zielgruppe handelt! Das ist sehr schön.
Anscheinend ist Konzept ist aufgegangen. Ganz offensichtlich war die Videokunst für einen Teil des Publikums eine Brücke, ein weiteres Tor zur Welt der klassischen Musik, und gleichzeitig konnten die Kenner das kompositorische Konzept des Programms verfolgen.